Briefwechsel der Brüder Grimm

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Band 2 - Briefwechsel mit Franz Pfeiffer

Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Bartsch, Franz Pfeiffer und Gabriel Riedel, hrsg. von Günter Breuer, Jürgen Jaehrling und Ulrich Schröter.  2002. (344 S., 42,00 €; Bestellmöglichkeit)

Dieser Briefwechsel wurde von Jürgen Jaehrling (Universität Trier) herausgegeben. In seiner Einleitung gibt er folgenden Überblick über die Beziehungen und den Briefwechsel zwischen Pfeiffer und den Brüdern Grimm:

Der Briefwechsel Franz Pfeiffers (27. 2. 1815 — 23. 5. 1868) mit den 30 bzw. 29 Jahre älteren Brüdern Grimm umfasst 103 erhaltene und 5 sicher erschlossene Briefe aus den Jahren 1840—1863. Er erstreckt sich aber durchaus ungleichmäßig über diese Zeit und gilt auch keineswegs beiden Brüdern in gleicher Weise. Vielmehr umfasst der Briefwechsel Pfeiffers mit Wilhelm Grimm lediglich 21 Briefe (13 von Pfeiffer, 8 von Wilhelm Grimm), die sich mit großen Lücken über die Jahre 1840—1856 verteilen und damit gut drei Jahre vor Wilhelm Grimms Tod am 26. Dezember 1859 enden. Der Briefwechsel mit Jacob Grimm dagegen umfasst gut die vierfache Anzahl (45 von Pfeiffer, 42 von Grimm), beginnt erst Ende 1844 und reicht bis zum Juli des Jahres 1863, in dem Grimm am 20. September stirbt. Dabei tritt Pfeiffer zunächst ebenso wie mit Wilhelm mit Jacob Grimm in losen Briefkontakt, in dem es längere Pausen von ein bis drei Jahren gibt, so zwischen August 1846 und September 1849 (Brief 19 f.), März 1850 und Mai 1851 (Briefe 22, 25) sowie September 1852 und Dezember 1853 (Briefe 31, 33). Zu einem intensiveren Gedankenaustausch kommt es erst in den Jahren 1855—1863: aus diesen neun letzten Lebensjahren Jacob Grimms stammen 67 der 87 Briefe zwischen beiden. Insbesondere mag dabei überraschen, dass der Briefkontakt drei Jahre lang ruhte, nachdem Pfeiffer die Grimms im September 1846 auf dem Frankfurter Germanistentag persönlich kennengelernt hatte. Offensichtlich war die persönliche Bekanntschaft für beide Seiten kein Grund für private Briefkontakte. Pfeiffers Briefwechsel mit Jacob wie mit Wilhelm Grimm gilt zunächst und vor allem der gelegentlichen Information, und erst in späteren Jahren, und auch nur mit Jacob Grimm, kommt es zu persönlichen Äußerungen und freundschaftlichem Ton im immer noch wesentlich berufs- und sachbezogenen Briefverkehr.

Innerhalb der gewaltigen Korrespondenz der Brüder Grimm nimmt der Briefwechsel mit Pfeiffer einen recht bescheidenen Platz ein, vor allem der Wilhelm Grimms, weniger der Jacobs, der in seinen letzten Lebensjahren an Pfeiffer in mehrfacher Weise eine zuverlässige Stütze findet: Die Arbeit Grimms am «Deutschen Wörterbuch» unterstützt Pfeiffer nachhaltig durch Zusendung von bis dahin nicht erfassten Werken und die Herstellung umfangreicher Glossare, die ihn viel Arbeit kosten und von Jacob Grimm stets als wertvolle Hilfe anerkannt werden; wenn Grimm unter dem „Joch“ der Wörterbucharbeit stöhnt (Brief 74) und die Möglichkeit zu freier wissenschaftlicher Arbeit vermisst, findet er in Pfeiffer einen kompetenten Gesprächspartner, der sich in seinem Fach auskennt und der ihm mit seinen durchaus eigennützigen Bitten um Beiträge für seine Zeitschrift stets suggeriert, immer noch die Leitfigur des aktuellen Wissenschaftsbetriebs zu sein; und den Klagen Grimms über mangelnde Anerkennung für das Wörterbuch wie für andere Arbeiten hält Pfeiffer unermüdlich dessen Verdienste und die Bedeutungslosigkeit seiner Kritiker entgegen (z. B. in Brief 96), Ermutigungen, die Jacob Grimm offenbar bitter entbehrt, wie seine heftigen Reaktionen zeigen, wenn diese Ermutigungen einmal nicht einhellig genug ausfallen (vgl. Brief 87).

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Der Wert, den Pfeiffer vor allem dem Briefkontakt mit Jacob Grimm beimisst, ist allerdings kaum zu überschätzen. Er selbst zählt sich zu Grimms Schülern (Brief 103), auch wenn er nie bei ihm gehört hat (Brief 33), Grimm ist ihm „leuchtendes Vorbild“ (Brief 93), „Leitstern“ (Brief 96) und in wissenschaftlichen Dingen höchste Autorität, deren Anerkennung er sucht und auf die er stolz ist, wie er in seinen Antwortbriefen immer wieder betont. Wie wenig er diese Autorität in Frage stellt, ergibt sich aus der Unbefangenheit, mit der er sie auch noch nach dem Tod der Brüder für eigene Zwecke einsetzt; denn dass er die Briefe der Grimms, soweit ihm das tunlich erscheint, wenige Jahre nach Jacobs Tod 1866 / 67 in der «Germania» als Dokumente «Zur Geschichte der deutschen Philologie» veröffentlicht, dient außer der Dokumentation zum einen dem persönlichen Bestreben, sich auf diese Weise einen möglichst ehrenvollen Platz in der Geschichte des Fachs zu sichern, zum anderen erklärtermaßen dem Ziel, die eigene Position als die von Jacob Grimm sanktionierte richtige von der gegnerischen Lachmanns und seiner Schüler abzusetzen. Dass dies sehr zum Missfallen von Wilhelm Grimms Sohn Herman geschieht, der Pfeiffer öffentlich für die damit begangene Indiskretion rügt, kümmert diesen wenig, da er sich „in vollem Einklang mit J. Grimm“ wähnt, wenn er auf diese Weise versucht, „den Garten unsrer Wissenschaft von schädlichem Gewürm und von Schmarotzerpflanzen zu säubern“.

Als Pfeiffer 1840 mit den Grimms zum ersten Mal brieflich in Verbindung tritt, ist er 24 Jahre alt und studiert in München bei Maßmann ältere deutsche Sprache und Literatur. Von Solothurn, seinem Geburtsort, in dem er die Kantonsschule besucht hatte, war er im Herbst 1834 nach München gekommen, um Medizin zu studieren, zugleich mit einem Empfehlungsschreiben eines seiner Lehrer an Maßmann in der Tasche, dessen Vorlesungen er dann auch neben seinem Medizinstudium hörte. Hintergrund für dieses Empfehlungsschreiben war Pfeiffers Teilnahme an einem „Freikurs“ in seinem letzten Schuljahr gewesen, „an welchem der von München berufene Professor Weishaupt nach Ziemanns ‘Grundriss zur Buchstaben- und Flexionslehre des Altdeutschen’ Unterricht erteilte“, den er mit der Note „vortrefflich“ abschloss und der offensichtlich sein Interesse am Altdeutschen geweckt hatte. Maßmann ist es denn auch, der den entscheidenden Einfluss auf Pfeiffers Studienjahre und damit sein gesamtes weiteres Leben ausübt: auf sein Drängen hin beendet Pfeiffer das Nebeneinander von Pflicht- und Neigungsstudium, indem er das Medizinstudium aufgibt; Maßmann macht ihm das Philologiestudium überhaupt erst möglich, indem er dem mittellosen Studenten, der sich sein Brot in den ersten Studienjahren zunächst durch Romanschreiben und andere literarische Tätigkeiten verdient hatte, die Hörergebühren erlässt, ihn als „Haus- und Tischgenosse[n]“ in sein Haus aufnimmt und ihm mit dem Kopieren mittelalterlicher deutscher Handschriften fachnähere kleine Aufträge verschafft, mit denen er sich über Wasser halten kann. Bei einem solchen Versuch, Pfeiffers finanzielle Lage zu verbessern, nutzt Maßmann seine freundschaftlichen Verbindungen zu den Grimms und macht sie auf ihn aufmerksam, was zu einem kleineren Kopierauftrag Wilhelm Grimms an Pfeiffer und damit zum ersten brieflichen Kontakt führt. Wie wichtig für Pfeiffer aber auch Maßmanns menschliche Wärme war, der Pfeiffer in Anspielung auf seine Heimatstadt und weil er allen Turnaktivitäten Maßmanns fernblieb, scherzhaft seinen „Solo-Turner“ genannt haben soll, geht aus der Dankbarkeit Pfeiffers gegenüber seinem Lehrer und Freund hervor, den er in der Studienzeit z. B. mit kleinen mhd. gereimten Neujahrswünschen „von Franzen dem pfîffære“ zu erfreuen sucht und den er in späteren Jahren in Briefen an Jacob Grimm (Briefe 14, 52) auch dann als seinen väterlichen Freund und Förderer in Schutz nimmt, als ihm dessen wissenschaftliche und persönliche Schwächen durchaus klar sind.

Dieser von Maßmann vermittelte erste Kontakt mit den Grimms während Pfeiffers Studienzeit beschränkt sich auf ein Begleitschreiben Pfeiffers zu einer Abschrift der Münchener Handschrift (N) des «Herzmære» Konrads von Würzburg Ende Januar 1840 an Wilhelm Grimm und dessen Dankesschreiben vom 1. Februar, dem ein kleines Honorar beilag. Ein weiteres Schreiben Maßmanns an Jacob Grimm vom 2. April desselben Jahres mit der Anfrage, ob Pfeiffer nicht „bey’m Wörterbuche, durch Vorarbeit hier (an der reichen Tafel) eine Zeit lang wenigstens beschäftigt werden könnte“, scheint keinen Erfolg gehabt zu haben. Erst viereinhalb Jahre später, als die Grimms längst von Kassel nach Berlin übergesiedelt sind und Pfeiffer von München nach Stuttgart gezogen ist, kommt es zum nächsten Briefkontakt, der wieder nicht von Pfeiffer, sondern von Wilhelm Grimm ausgeht. Pfeiffer hat sich zu dieser Zeit vor allem als Herausgeber von Handschriftenabdrucken bereits einen Namen gemacht, die  z. T. in Fachzeitschriften (Altdeutsche Blätter, ZfdA), z. T. in der «Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart» erschienen waren, aber auch durch die kritische Ausgabe des «Barlaam und Josaphat» Rudolfs von Ems in den «Dichtungen des deutschen Mittelalters». Wilhelm Grimm, der zu dieser Zeit mit der Herausgabe des «Athis und Prophilias» befasst ist, lässt Ende August über Julius Zacher bei Pfeiffer als dem Sekretär des Literarischen Vereins anfragen, ob die Herausgabe der afrz. Alexanderromane des Lambert li Cors und des Alexander Bernay geplant sei. Pfeiffer bestätigt, daß sie eineinhalb Jahre zuvor auf seinen Vorschlag ins Programm aufgenommen worden seien und rät ihm, seine Fragen direkt an den dafür vorgesehenen Herausgeber Henri Victor Michelant zu stellen, dessen Adresse er ihm vermittelt. Er erfährt auch, dass Grimm diesen Rat befolgt und Michelant eine Antwort vorbereitet, kommt ihm jedoch zuvor und teilt Grimm in einem längeren Brief ungebeten seine „ansicht von der sache“ (Brief 4, Z. 12) mit, wobei er ihm ausführlich ein Werk der Sekundärliteratur referiert, das Grimm bei seiner Arbeit bis dahin übergangen hatte. Der eher reservierte Dank Wilhelm Grimms für diese Auskünfte (Brief 5) lässt erkennen, daß ihm diese Art der Unterstützung und ihr belehrender Ton leicht peinlich ist, was Pfeiffer aber keineswegs daran hindert, ihn in ähnlicher Weise weiterhin mit Materialien und Ratschlägen zum «Athis» (Briefe 8, 13, 17), gelegentlich auch zur Sprichwörtersammlung (Brief 10) zu versorgen.

Dieser ersten Phase des Briefwechsels zwischen Wilhelm Grimm und Pfeiffer bis Mitte 1846 folgt, nach einer Unterbrechung von fast fünf Jahren, eine zweite der höflich-distanzierten Wertschätzung, in der Wilhelm Grimm nicht mehr um Auskunft bittet, Pfeiffer nur noch einmal als Gegengeschenk eine kleine Handschriftenkopie zuliefert (Brief 23) und beide sich im übrigen gegenseitig einige ihrer Schriften zum Geschenk machen (Briefe 23, 32, 34). Zwar kann es Pfeiffer sich nicht versagen, seinem Dank auf Wilhelm Grimms Abhandlung «Zur Geschichte des Reims» von 1852 sogleich wieder einige Korrekturen hinzuzufügen (Brief 32), doch bleiben sie unerwidert, abgesehen davon, dass Grimm sie für sich selbst am Briefrand mit Bleistift z. T. als falsch erklärt.

Die letzte Phase der Beziehung zwischen Pfeiffer und Wilhelm Grimm ist weniger durch ihren Briefwechsel gekennzeichnet als durch die öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung beider mit Wilhelm Grimms These von der Identität Walthers von der Vogelweide und Freidanks, der Pfeiffer 1851, als er sie kennenlernt, zunächst noch wohlwollend gegenübersteht (vgl. Brief 23), die er aber Ende 1854 einer ausführlichen und im Ton recht polemischen Widerlegung unterzieht. Damit eröffnet er eine wissenschaftliche Fehde, die sich bis 1858 hinzieht (vgl. die Briefe 37 f., 41, 46, 61, 64) und die Wilhelm Grimm schon 1856 dazu führt, die Beziehungen zu Pfeiffer abzubrechen. In vier Briefen, die beide 1855 f. noch wechseln (Briefe 41, 46, 58 f.), findet ein sachlicher Meinungsaustausch nicht mehr statt, und in der öffentlichen Auseinandersetzung fühlt sich vor allem Wilhelm Grimm von Pfeiffers persönlichen Unterstellungen so verletzt, dass er schließlich sogar die Annahme eines erneuten Buchgeschenks von Pfeiffer verweigert (vgl. Brief 64). Dass er schon nach Pfeiffers erster Gegenschrift nicht mehr zum Gespräch bereit war, zeigt seine Reaktion auf Pfeiffers Ankündigung der «Germania», für die er im Gegensatz zu Jacob Grimm angeblich keine Berechtigung sieht (Brief 46), obwohl er es sicher besser wusste. Bei Pfeiffer erstaunt, dass er offensichtlich glaubt, auch die bissigsten Formulierungen würden ihm wegen seiner so oft in Anspruch genommenen Wahrheitsliebe eher zur Ehre angerechnet als persönlich übel genommen werden. Nur so ist verständlich, dass er trotz Holtzmanns Anraten (vgl. Brief 61, Sachkommentar) seine persönlichen Angriffe nur wenig mildert und sich dennoch frei von jeder Feindseligkeit (Brief 37) und voller Lauterkeit der Gesinnung (Brief 41) weiß. Bemerkenswert ist im übrigen die Zurückhaltung, die sich Jacob Grimm in dieser Auseinandersetzung auferlegt. In der Sache steht er zwar auf Seiten Pfeiffers, übt Pfeiffer gegenüber aber weder Kritik an der These seines Bruders noch am Ton Pfeiffers, auch dann nicht, als dieser einräumt, sich möglicherweise im Ton vergriffen zu haben (vgl. z. B. Brief 61).

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Im Gegensatz zu Pfeiffers Briefwechsel mit Wilhelm Grimm geht der mit Jacob Grimm von Pfeiffer aus, der im Brief an Wilhelm vom 14. November 1844 (Brief 4) beiläufig nach einem Abdruck von Jacob Grimms Akademieabhandlung vom 24. April 1843 über «Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich I den Staufer …» fragt. Dass Grimm dies, vermutlich zu recht, nicht Pfeiffers Interesse an der Sache zuschrieb, sondern als ungeschickten Versuch der Kontaktaufnahme ansah, geht aus seinem ersten Brief an Pfeiffer gut einen Monat später hervor. Darin kündigt er ihm an, er lasse ihm die nunmehr gedruckte Abhandlung zugehen, obgleich er nicht wisse, was ihn daran interessiere, und versichert ihm zugleich die Wertschätzung seiner bisherigen Arbeiten einschließlich der gerade erschienenen von Pfeiffer herausgegebenen «Livländischen Reimchronik». Pfeiffer konnte sich also ebenso bei einem ungeschickten Versuch ertappt als auch zu einem weiteren ermuntert fühlen. Ein knappes Jahr später unternimmt er ihn, nunmehr offener, mit zwei Briefen (Briefe 11 und 14) und der Zusendung des ersten Bandes der von ihm herausgegebenen «Deutschen Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts» an Jacob Grimm. Was ihn dabei bewog, sich zugleich für die Widmung des Bandes an Maßmann zu rechtfertigen, und obendrein als dessen Gegner Lachmann und Haupt ins Unrecht zu setzen, lässt sich nur erahnen. In jedem Fall dürfte ihn Grimms Antwort überrascht haben, der sich nicht auf sein Freund-Feind-Denken einlässt und ihm in Brief 16 sein Recht auf Dankbarkeit gegenüber Maßmann zubilligt, ohne mit Kritik an ihm zu sparen, und im übrigen auch am guten Willen Lachmanns und Haupts festhält, sich aber nicht auf die Diskussion oder gar Widerlegung von Pfeiffers Ansichten einlässt. Dies ist die Haltung, die er Pfeiffer gegenüber auch später an den Tag legt, wenn dieser ihn zu eindeutigeren Stellungnahmen gegen Lachmann und die Lachmannianer zu drängen sucht: Er bleibt bei seiner gegensätzlichen Ansicht, lässt sich aber auf Pfeiffers Polemik nicht ein (vgl. z. B. die Briefe 66—69, 96—98) und klammert damit die Frage aus ihren Beziehungen aus, die dadurch ungestört weiterbestehen können. Mit dieser Strategie der Vermeidung unnötiger oder unausgleichbarer Konflikte trägt Jacob Grimm gewiss wesentlich dazu bei, dass zwischen ihm und Pfeiffer eine Art Freundschaft entstand, die sich bis zu Grimms Tod fortentwickelte. Um nicht missverstanden zu werden: Pfeiffer konnte sich stets darauf verlassen, daß Jacob Grimm ihm gegenüber Lob und Zustimmung genauso offen äußerte wie Kritik. Dass dieser sich aber weder in die Auseinandersetzung seines Bruders mit Pfeiffer noch in dessen Lieblingspolemik gegen die Lachmannschule einschaltete, dokumentiert nicht Konfliktscheu, sondern den Wunsch, sich aus fruchtlosen, persönlich und nicht sachlich begründeten Streitereien herauszuhalten. Es darf spekuliert werden, ob es diese Strategie war, die Grimm dazu bewog, seine Schrift «Über Hochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Mitteldeutsch», deren Ausarbeitung er Pfeiffer am 30. April 1857 in Aussicht gestellt (Brief 62) und in der er seine Pfeiffer entgegengesetzten Ansichten dargelegt hatte, schließlich doch nicht abzuschicken.

In den ersten zehn Jahren der Bekanntschaft Pfeiffers mit Jacob Grimm deutet wenig auf einen Briefwechsel hin, der über gelegentliche Kontakte zwischen zwei Kollegen hinausgeht, die sich gegenseitig respektieren, aber auch — schon wegen des Altersunterschieds von 30 Jahren — gänzlich unterschiedliche Lebens- und Berufsperspektiven aufweisen. Zwischen den je 10 Briefen, die beide zwischen Ende 1844 und Ende 1854 wechseln, liegen lange Pausen (s. o.), so daß von einem kontinuierlichen Gedankenaustausch nicht gesprochen werden kann. Die Briefe Jacob Grimms enthalten Anregungen für das Programm der «Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart» (Briefe 12, 16, 22), Bitten um kleinere Gefälligkeiten (Briefe 19 f., 22), Danksagungen für Buchgeschenke (Briefe 16, 25, 27, 36) und Bemerkungen zu den Veröffentlichungen Pfeiffers und anderer sowie zu einzelnen Ereignissen, die Grimm persönlich bewegten, wie der Tod Lachmanns (Brief 25; vgl. 27 f.) und Schmellers (Brief 30; vgl. Brief 29). Ähnliches gilt für die Briefe Pfeiffers, der in diesen Jahren den Grundstein für seine Berufung zum Professor nach Wien legt und daher bezüglich Publikationen im wesentlichen der Gebende ist, zumal Grimm schon wesentlich mit Planung und Ausarbeitung des DWB befasst ist. Andererseits konnte Grimm die Karriere des Jüngeren dadurch fördern, dass er auf dessen Bitte eine Empfehlung für ihn schrieb, die Pfeiffers erster Festanstellung (als Dritter Bibliothekar) an der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart diente. Weder die Bitte noch die Empfehlung oder ein Dankesschreiben dafür sind erhalten, lediglich Grimms briefliche Erwähnung und eine Anmerkung Pfeiffers zu dem edierten Brief, in der er die Empfehlung, die nach Bartsch seine Anstellung „kräftig unterstützte“, zu „ein paar empfehlenden Zeilen“ herunterspielt. In ähnlicher Weise erwähnt Pfeiffer auch bei seinem sichtlich von Stolz geprägten Brief an Grimm über seine Berufung nach Wien vom 23. April 1857 mit keinem Wort, dass er sie, wie sein Briefwechsel mit Diemer erkennen läßt, ganz wesentlich dessen Fürsprache und Bemühungen seit Frühjahr 1854 zu verdanken hatte. Offenbar passte es nicht ins schöne Bild vom Erfolg des Tüchtigen, das Pfeiffer sich und anderen erhalten wollte.

Die Intensivierung des Briefwechsels ab 1855 hat unmittelbar mit Pfeiffers Gründung der neuen Zeitschrift «Germania» zu tun, die zumindest in den ersten vier Jahren die Korrespondenz auch inhaltlich bestimmt. Seinem Ziel, möglichst viele namhafte Germanisten zu Mitarbeitern “seiner” Zeitschrift zu machen, kommt Pfeiffer dabei mit der Gewinnung Uhlands und Jacob Grimms näher, während Wilhelm Grimm, wie gesagt, dem Unternehmen fern bleibt und keinen einzigen Beitrag liefert. Für die ersten drei Jahrgänge der «Germania» liefert Jacob Grimm insgesamt 17 Aufsätze, danach keine mehr. Es sind meist kleinere wort- und sprachgeschichtliche Aufsätze, die im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des DWB entstanden sind. Dabei sind die sieben Beiträge des ersten Jahrgangs 1856 und die sechs von 1857 offensichtlich dazu angetan, Pfeiffers Zeitschrift in ihrer Anfangsphase tatkräftig zu unterstützen, während nach dem dritten Jahrgang 1858, zu dem Grimm noch vier Aufsätze beiträgt, nur noch gelegentlich Absichtserklärungen folgen, Beiträge auszuarbeiten, die schon beinahe fertig seien, die fertigzustellen Jacob Grimm aber offenbar nicht mehr in der Lage ist. Pfeiffer scheint auch zu merken, daß hier eine Grenze erreicht ist, denn er stellt seine Bitten um neue Beiträge ein und bittet nur noch gezielt um bestimmte Auskünfte, die Grimm dann auch prompt und ausführlich erteilt, so zum Geburtsort Heinrichs von Veldeke (Brief 84 f.), zum Ausruf „kas“ in einer niederdeutschen Chronik (Briefe 88—90) und zum Wort „ælare“ in einem Arzneibuch des XII. / XIII. Jh.s (Brief 104 f.). Im übrigen verschiebt sich das Gewicht der Korrespondenz zunehmend zugunsten des Jüngeren, der nicht nur über seine wissenschaftlichen Entdeckungen zu berichten weiß, wie z. B. über die Zwiefaltener Benediktinerregel (Briefe 64, 71) oder Konrad von Megenberg (Briefe 49, 71), sondern (ab Brief 61) natürlich auch über seine neue Stellung in Wien viele Einzelheiten mitzuteilen hat, wie z. B. die Themen seiner Veranstaltungen, Hörerzahlen, Unterrichts- und Prüfungsbelastungen, aber auch Probleme während seines Dekanats 1859 (vgl. die Briefe 61, 66, 81, 84). Zu seinen Leistungen in diesem Amt rechnet er sich dabei nicht zu Unrecht an, dass es ihm gelang, die Habilitation von Franz Stark durchzusetzen, die diesem im Jahr zuvor wegen seiner Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament zunächst verweigert worden war (vgl. die Briefe 68, 81). Wenngleich Pfeiffers Empörung über dieses Gesinnungsurteil des Kaisers und sein Engagement für Stark wesentlich auf seiner persönlichen Wertschätzung beruhen mag und er eine politische Stellungnahme geradezu unterdrückt, konnte er sich hier in Übereinstimmung mit Grimms politischen Ansichten wissen. Wie Grimm vertritt auch Pfeiffer großdeutsche Ansichten, und beide stimmen in der grundsätzlichen Beurteilung der politischen Lage überein, die Grimm „trauriger, kläglicher politik“ (Brief 96) und Pfeiffer „junkerlichem Übermuth“ (Brief 107) zuschreibt.

Ein einziges wissenschaftliches Thema beschäftigt die beiden Briefpartner leidenschaftlich und über eine längere Zeit hinweg, und das ist das sog. ahd. „Schlummerlied“ oder „Wiegenlied“. Noch bevor Georg Zappert es 1858 in den Wiener Sitzungsberichten veröffentlicht, benachrichtigt Pfeiffer Jacob Grimm von diesem „höchst werthvollen Funde“ (Brief 75 vom 13. 10. 1858) und schickt drei Tage später gleich noch einen zweiten Brief hinterher (Brief 76), in dem er um vertrauliche Behandlung der Angelegenheit bittet und einige Erklärungen versucht. Grimm antwortet zwei Wochen später mit einer durchgehenden Kommentierung und einer Art kritischer Textedition (Brief 77), schickt Zappert nach der Veröffentlichung auch einen Brief mit Besserungsvorschlägen (vgl. Brief 76, Sachkommentar), zumal Pfeiffer ihm die Echtheit erneut bestätigt (Brief 79), und lässt sich im Vertrauen auf die Echtheit zu einem Aufsatz «Über die Göttin Tanfana» anregen, in dem er im Frühjahr 1859 frühere Auffassungen dem neuen Fund anpasst. Nachdem Wilhelm Müller im Februar 1860 das «Schlummerlied» in den GGA zur Fälschung erklärt, verlangt Grimm Mitte April desselben Jahres von Zappert brieflich  einen Offenbarungseid, zu spät freilich, denn Zappert war fünf Monate zuvor verstorben (vgl. Brief 78, Sachkommentar). Noch in seinem letzten Brief an Pfeiffer vom 26. Juli 1863 kündigt Jacob Grimm eine Abhandlung über das «Schlummerlied» an, von der sich im Nachlass allerdings keine Spuren finden. Anders als etwa Uhland hielt auch Pfeiffer bis zuletzt an der Echtheit des «Schlummerliedes» fest und vertrat diese Meinung noch 1866 in einem Aufsatz, was, so wird vermutet, nicht zuletzt in seinen Animositäten gegen die Berliner Schule begründet war, die das «Schlummerlied» erneut zur Fälschung erklärt hatte (vgl. Brief 79, Sachkommentar).

Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Komik, dass beide Briefpartner ihre so häufig unter Beweis gestellten kritischen Fähigkeiten der Begeisterung für ein vermeintlich wiederaufgefundenes Denkmal der alten Zeit opferten, wie es ein Jahr vor Veröffentlichung von Zapperts Fälschung mit dem «Wiener Hundesegen» tatsächlich ans Licht getreten war. Sinn für solche Scherze war allerdings auch nicht zu erwarten bei der Arbeitslast, die beide sich aufgeladen hatten. Insbesondere Jacob Grimm fühlt sich „ins wörterbuchjoch gespannt“, wie er unmittelbar vor Pfeiffers Nachricht über den neuen Fund klagt, und Pfeiffer hat den erklärten Ehrgeiz, wenigstens für seinen Fleiß den Beifall Grimms zu erhalten. „In einem wenigstens möchte ich es Ihnen gleich thun: in der unablässigen unverdrossenen Arbeit“, schreibt er Grimm einige Jahre später, als seine Arbeitswut bereits seine Gesundheit ruiniert hatte, was letztlich wohl zu seinem frühen Tod mit 53 Jahren geführt hat.

Insgesamt werden in den letzten fünf Jahren des Briefwechsels, in denen Jacob Grimm nicht mehr Zulieferer von Beiträgen für die «Germania» ist, die persönlichen Töne deutlicher als vorher. Zwar steht Jacob Grimm für Pfeiffer auch vorher schon weitgehend außerhalb der Kritik und bekommt von ihm dann, wenn Grimm einmal einen wunden Punkt berührt, allenfalls Selbstrechtfertigungen und Klagen über Missverständnisse zu hören. Jacob Grimm dürfte der einzige der über 460 Briefpartner Pfeiffers sein, dessen Autorität er zeitlebens uneingeschränkt anerkennt. Doch fällt Pfeiffer in diesen Jahren, in denen Grimm nicht nur Zweifel an der Aufnahme des DWB, sondern auch an der rechten Einschätzung seiner früheren Arbeiten äußert, nun auch die für ihn durchaus neue Aufgabe zu, den Niedergeschlagenen wieder aufzurichten. Wie immer man das Pathos beurteilen mag, mit dem er dabei Grimm zum „Leitstern“ erhebt, dem nachzueifern für ihn selbst und andere „heilige Pflicht“ sei (Brief 96), es zeigt, dass Pfeiffer Grimm gegenüber auch zu einer gewissen Selbstverleugnung fähig ist, wenn er glaubt, ihm damit helfen zu können. So ist er Jacob Grimm in diesen letzten Jahren ihrer Bekanntschaft schließlich doch noch der „liebe Freund“ geworden, als den Grimm ihn in seinen Briefen anspricht.

Briefwechsel der Brüder Grimm, Band 2

Band 2

... Karl Bartsch

... Franz Pfeiffer

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Franz Pfeiffer
Signatur von Franz Pfeiffer
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Franz Pfeiffer (Jugend- und Altersbildnis aus dem Band).

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