Wie sich erst aus den Arbeiten am Grimm-Briefverzeichnis deutlich ergab, ist der Briefwechsel der Brüder Grimm über weite Strecken noch nicht wissenschaftlich erschlossen. Nur ein verhältnismäßig kleiner Anteil der Briefe ist in einer zuverlässigen Textform gedruckt worden. Der Kanon dessen, was in früherer Zeit (und oft mangelhaft) gedruckt wurde, war zum Teil durch Zufälle zustande gekommen. Ganze Briefreihen, die für jede Forschung über die Brüder Grimm grundlegende Aussagekraft besitzen, lagerten unbeachtet in den Archiven und Bibliotheken.
Es lag nahe, dass die durch das Briefverzeichnis gegebenen Befunde zu dem Bestreben führten, eine wissenschaftliche Ausgabe der Grimm-Briefwechsel zu planen, zumal eine solche Ausgabe ohnehin seit mehr als 100 Jahren zu den Desideraten der Germanistik gehört hatte, ohne dass es bisher genügende Informationen über die tatsächlich vorhandenen Briefe oder ein realistisches Konzept für eine solche Edition gegeben hätte.
Die jetzt verwirklichte Idee einer kritischen Ausgabe in Einzelbänden entstand einerseits aus Erfahrungen mit Teileditionen und früheren konzeptionellen Diskussionen über Grimm-Editionen sowie aus der profunden Kenntnis der gedruckten und handschriftlichen Überlieferung, die Ludwig Denecke in den Meinungsaustausch einbrachte, und andererseits aus Erkenntnissen über die Erstreckung und Struktur der Grimm-Korrespondenzen, die das entstehende Briefverzeichnis lieferte. Während frühere Vorstellungen über eine Grimm-Briefausgabe wohl meist davon ausgingen, die Briefe in chronologischer Folge herauszugeben, nahmen wir hiervon angesichts des sich abzeichnenden Umfangs des Gesamtbriefwechsels, aber auch wegen der zum Teil schon vorhandenen wissenschaftlichen Teileditionen und wegen des unterschiedlichen inhaltlichen Gewichts der Korrespondenzen von vornherein Abstand. Statt einer chronologischen Gesamtausgabe streben wir ein Mosaik kritisch edierter Einzelbriefwechsel an. Die großen Briefwechsel sollen in Einzelausgaben erscheinen, die kleineren in alphabetisch nach Personen geordneten oder thematisch bestimmten Sammelbänden. Dabei soll offen bleiben, ob mit der Zeit der gesamte Briefwechsel der Brüder Grimm innerhalb dieser Ausgabe nach einheitlichen Methoden herausgegeben wird.
Die herauszugebenden Briefwechsel werden nach Dringlichkeit ausgewählt. Zunächst soll das Ungedruckte, sodann das unphilologisch Gedruckte berücksichtigt werden, und in beiden Gruppen vorrangig das inhaltlich Bedeutendste. Der Konzeption liegt auch die Entscheidung zugrunde, dass die beabsichtigte Ausgabe nicht mechanisch das vorhandene Material aufarbeiten soll, sondern dass sie es als ihr Ziel ansieht, den Zugang zu bislang unerschlossenen, inhaltlich wesentlichen Teilen der Grimm-Korrespondenz zu öffnen und die Forschung aus der misslichen Lage zu befreien, ihre Thesen auf zum Teil unzulängliche Texte stützen zu müssen. Das Modell der Kritischen Ausgabe in Einzelbänden bietet die Gewähr, dass zusammengehörige Einheiten, die wegen ihres Zeugniswertes den Aufwand einer Edition rechtfertigen, vollständig und nach kritisch-wissenschaftlicher Methode herausgegeben werden, und zugleich ist der Sachzwang vermieden, auch das weniger Aussagekräftige in gleicher Weise bearbeiten zu müssen. Die Entscheidung, welcher Anteil der Gesamtüberlieferung schließlich in dieser Ausgabe erscheinen wird, bleibt offen. So können auch andere vorliegende Editionen von Grimm-Briefwechseln nach ihrem Wert berücksichtigt werden und ausgespart bleiben, sofern sie dem, was eine neue kritische Ausgabe bieten könnte, gleichwertig sind. Eine chronologische Gesamtschau bleibt durch das Briefverzeichnis möglich, in das alle neuen Editionen eingehen.
In den Jahren 1991 bis 1995 lag die Vorbereitung und Koordinierung der Grimm-Briefausgabe bei der Arbeitsgemeinschaft für die Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts e. V., Berlin (später umbenannt in Grimm-Sozietät zu Berlin e. V., gegr. 1991). 1995 haben sich die Mitherausgeber und Mitherausgeberinnen auf Anregung der genannten Arbeitsgemeinschaft in einem Herausgeberkollegium zusammengeschlossen. Zum Sekretariat des Herausgeberkollegiums wurde die Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel an der Humboldt-Universität zu Berlin gewählt. 2018 gab das Herausgeberkollegium die Koordinierungsaufgaben für das Projekt an die Sozietät zurück.
Dem Herausgeberkollegium gehören mehr als 40 in- und ausländische Fachleute verschiedener Disziplinen an, die jeweils die Edition von unterschiedlich umfangreichen Teilen des Materials übernommen haben. Abgeschlossene Beiträge werden in der Regel zunächst durch einen Korreferenten aus dem Kreis des Kollegiums geprüft. Daran schließt sich eine formale Prüfung hinsichtlich der Übereinstimmung mit den vereinbarten Editionsrichtlinien, die in der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel an der Humboldt-Universität vorgenommen wird. Sind diese beiden Überprüfungen beendet, gelangt der Beitrag zum Druck. Die Redaktions- und Satzarbeiten werden in der Arbeitsstelle Berlin geleistet.
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